Die Sterne sah ich in den letzten Jahren, verursacht durch Brechungsfehler in den Augen, nur noch als Doppelpunkte und die Mondscheibe verwischt. Das hatte etwas Endgültiges, doch sorgten zwei erstaunlich gelungene Katarakt-Operationen in diesem pandemischen Frühjahr dafür, dass ich mich noch einmal in den nächtlichen Sternenhimmel verguckte, mit dem gleichen Gefühl, mit dem er mich, vierzehn war ich da, ein erstes Mal erfasste und heftig und innig berührte, so wie der erste Mädchenkuss.
Aus einem Astronomiestudium, von dem ich zu träumen begann, wurde nichts. Ich hätte sehr gut in Mathe und Physik sein und dazu in Jena, Berlin oder Rodewisch zur Schule gehen müssen, dort, wo es astronomische Forschung gab oder mindestens eine renommierte Schulsternwarte. Stattdessen lotsten mich meine Lehrer in ein Pädagogikstudium Physik/Mathematik und übersahen auch die zweite Liebe, die damals in mir heraufdämmerte, die zur kreativen Sprache. So war ich auf der Suche nach einem brauchbaren Lebensziel lange allein unterwegs.
Für die Orientierung am Nachthimmel ist in der Jahresmitte das Sommerdreieck ein guter Anfang. Auch wenn das Mondlicht nur noch sehr helle Sterne sehen lässt, gehören Atair, Deneb und Wega stets dazu. Die antiken Griechen brachten sie in drei verschiedenen Sternbildern unter.
Um Atair formt sich der Kopf eines fliegenden Adlers, und der Name dieses Einzelsterns – arabisch el-tair: der Fliegende – erstreckt sich auf das ganze Bild. Zwei Sternenreihen erschaffen in der Phantasie gebreitete Flügel und einen gleitenden Körper.
Deneb – arabisch dseneb: Schwanz – heißt der hinterste Stern im Schwan, hinter dem sich die Milchstraße teilt. Es symbolisiert den berühmten Sänger Orpheus, der sogar wilde Tiere mit seinem Gesang zur Leier besänftigt haben soll.
Wega ist Hauptstern in eben ihr, diesem orpheischen Instrument, das der Götterbote Hermes nach dem Bilde einer Schildkröte formte. Allerdings passt der Name Wega schlecht, der – arabisch waki: fallend – einen Adler im Sturz auf seine Beute bezeichnet.
Denken wir nun eine Verbindungslinie zwischen den hoch am Sommernachthimmel strahlenden Deneb und Wega und bilden darunter ein gleichschenkliges Dreieck, wird Atair seine zum Horizont weisende Spitze. Das Dreieck führt zu weiteren drei markanten Sternbildern. Die verlängerte Seite Deneb-Wega führt zu Herkules, die Seite Atair-Wega in den Großen Wagen und die zwischen Atair und Deneb zu Kassiopeia. In der griechischen Sage ist Kassiopeia die eitle Gemahlin des äthiopischen Königs Cepheus, am Sommernachthimmel ist sie mit ihren fünf Hauptsternen in Form eines W oder M das wohl bekannteste Bild neben dem Großen Wagen.
Mit vierzehn las ich, dass Deneb ein 600 Lichtjahre entfernter Riesenstern mit 10 000-facher Sonnenleuchtkraft sei, Atair nur 15 Lichtjahre entfernt und etwa so groß wie die Sonne und Wega der hellste Stern der nördlichen Hemisphäre, 28 Lichtjahre entfernt und bei vierfachem Sonnendurchmesser an seiner Oberfläche 12 000 oC heiß.
Sechseinhalb Jahrzehnte später hat die Wissenschaft diese Messdaten präzisiert, korrigiert und Erstaunliches hinzu entdeckt. Demnach ist Deneb nicht 600 sondern 3000 Lichtjahre entfernt, strahlt bei nur etwa 8000 oC aber 250 000 mal heller als die Sonne. Die Entfernungen von Atair und Wega werden mit 17 und 25 Lichtjahren annähernd bestätigt, wie ihre Durchmesser mit etwa dem doppelten der Sonne. Beide verbrennen, wie die Sonne, noch Wasserstoffvorräte, rotieren im Gegensatz zu ihr aber viel schneller um die eigene Achse. Die Sonne braucht 24 bis 27 Tage (als Gasball an den Polen länger als am Äquator) für eine Umdrehung, bei Atair und Wega sind es nur reichlich 10 Stunden. Deswegen sind beide deutliche Ellipsoide. Bei Wega führt das zu einem Temperaturgefälle von 2300 oC zwischen ihren Polen und dem Äquator und zu einer deutlich stärkeren Infrarotstrahlung. Lange wurde sie falsch klassifiziert.
Der Riesenstern Deneb, im Radius größer als der Abstand der Erde zur Sonne, dreht sich mit 80 Tagen recht langsam um sich selbst und ist deswegen kugelähnlich wie sie, in der Entwicklung aber viel weiter. Seinen Wasserstoff hat er schon vor einigen 10 000 Jahre aufgebraucht und verbrennt jetzt dessen ‚Asche‘, das Helium. Der Sonne reichen noch 15 Millionen oC im Kern. Für Helium braucht es schon 100 Millionen oC. Kohlenstoff wird folgen, dann Neon. Später könnte sich ein Planetarischer Nebel um ihn bilden, bis sein Kern erlischt, Deneb kollabiert und explodiert, wenn das äußere Material in ihn stürzt, als Neutronenstern, ‚Supernova‘ genannt, ein kosmischer Lichteffekt, der sogar für uns kurzzeitig ist. Im Ergebnis entstehen schwere Elemente wie Kupfer, Silber, Gold, Uran, die sich irgendwann irgendwo in Planeten wiederfinden.
Wer sollte all das wissen und wozu? Wäre es nicht notwendiger, den Klimawandel abzubremsen, einen Pandemie-Virus zu erforschen oder meine bedenklichen Triebe und Antriebe? Oder ist es die Faszination, mit der ich, Krümelchen Natur, all diese Zustände und Vorgänge und Wandlungen im Hier und Jetzt beobachten und ein wenig davon sogar verstehen kann? Aber, so passend in diese Zusammenhänge, niemals begreifen werde. So unzulänglich. So imperfekt. So restlos vergänglich. So wiederbringlich.
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