„documenta fifteen“ 6

TARING PADI

Bis in das Jahr 1998 war Indonesien eine von den USA gestützte Militärdiktatur. Auf dem Höhepunkt von Volksprotesten, die zu einem Übergang des Landes in demokratische Strukturen führten, studierte die Mehrzahl der Gründungsmitglieder von Taring Padi an der Kunstakademie in Yogyakarta. „Taring Padi, das ist ein kleines Haar an der Spitze ungeschälter Reiskörner“, erklärt Sri Maryanto, ein Mitglied der Gruppe, ihren Namen. „Wird die Ähre geerntet, löst sich dieses kleine Haar und fliegt davon. Berührt es die Haut, juckt es ähnlich wie bei Juckpulver. Das ist die Philosophie von Taring Padi. So klein wir sind, wird die Haut der großen Mächte, die wir kritisieren, gereizt.“

Taring Padi solidarisiert sich mit all denen, die soziale oder wirtschaftliche Ungerechtigkeit erfahren und gibt ihnen eine visuelle Stimme. “Wir thematisieren Umweltprobleme und ihre Zusammenhänge mit Wirtschaft und Technologie. Hier haben wir auch keine Scheu, einzelne Unternehmen anzugreifen. Das Ziel unserer Arbeit ist, dass die Öffentlichkeit auf Ungerechtigkeiten aufmerksam wird. Im Idealfall kommt es zu einem Dialog, der diese Probleme löst.“

Durch Freundschaft und gemeinsame politische Ziele wurde aus der Gruppe ein Kollektiv. „Alle entstandenen Arbeiten sind Kollektivarbeiten. Der Name des Künstlers spielt keine Rolle mehr.“ Taring Padi will in der Heimat und darüber hinaus ein gesellschaftliches Bewusstsein für Gerechtigkeit, Freundschaft und Solidarität entwickeln. „Kunst ist für uns ein politisches Werkzeug, um unsere Idee gegen Ausbeutung und Gewalt darzustellen. Befreiungskunst.“

Am Anfang lebten alle Mitglieder in Yogyakarta, inzwischen verteilt über die ganze Welt, in Australien, Amerika, England, Schweden zum Beispiel. „Ich habe Freie Kunst im Fach Malerei und Grafik studiert“, sagt Sri Maryanto. „Letzten Februar habe ich mein Studium mit Diplom an der Akademie der Bildenden Künste München abgeschlossen. Neben Malerei mache ich Druckgraphik und Objekte. Glücklicherweise gibt es heutzutage Technologien, die uns die Probleme in der Kommunikation auf die Entfernung lösen.“

Wie das geschieht? „Wir diskutieren zunächst das Thema. Oft werden Experten von außerhalb des Kollektivs eingeladen, um es tiefgründig zu besprechen. Danach werden die Aufgaben verteilt. Einige Künstler entwickeln die Komposition und die Skizze eines Werkes. Das wird gemeinsam auf Leinwand, Hardboard et cetera übertragen. Dann wird gemeinsam gemalt. Natürlich hat jeder Künstler seine eigene Technik, den individuellen Pinselstrich, aber durch die Arbeitsweise relativiert er sich in der Gesamtheit. Oft kommt es zu Improvisationen, aber die zu Beginn entwickelte Komposition oder Skizze bleibt erhalten.“

Der Eintrag des individuellen Vermögens in das Gesamtwerk ist den Mitgliedern wichtiger, als sich selbst darzustellen. Das ist in der Gruppe anerkannter Konsens. Fast noch erstaunlicher ist, dass das nicht mit dem Verlust von Selbstverständnis und Selbstbewusstsein einhergeht, sondern beides zu qualifizieren scheint. Das fällt mir beim näheren Betrachten auf und dass die Kunstwerke nicht nur für sich wirken, sondern miteinander, im buchstäblichen Zusammenhang und im Zusammenhang mit der Architektur dieser Räumlichkeit. Auf diese Weise wird Zeitgeschehen nicht nur kommentiert, sondern mit kollektiver Perspektive kombiniert. Impulse werden gesetzt, die es beeinflussen können.

Das Motto von Taring Padi für die documenta fifteen heißt „Flammen der Solidarität“. Satirisch und pointiert vermitteln die Künstler:innen ihr Koordinatensystem mit den drei Hauptachsen Organisation, Bildung und Agitation. Zum Ausgangspunkt ihrer Intervention hat die Gruppe das Hallenbad Ost erkoren. Die 1929 im Bauhausstil errichtete Badeanstalt liegt an der Schnittstelle zwischen der Innenstadt und dem industriell geprägten Kasseler Stadtteil Bettenhausen. Nach einer umfangreichen Sanierung und funktionalen Umwidmung ist das Gebäude seit einem Jahr ein kultureller Hotspot mit über die Stadtgrenze hinausreichender Gravitation.

Mich aufhaltend, mich einladend, fotogen allemal, hat eine wild geordnete Schar „Wayang Kardus“ den Vorplatz des Gebäudes besetzt. Das sind vom klassischen javanischen Schattenspiel inspirierte Pappfiguren, die zum Beispiel auf Demos oder Karnevalsparaden getragen werden. Im Idealfall verdoppeln sie die Teilnehmerzahl und spenden Schatten. Die Bambusstöcke können notfalls vor willkürlicher Polizeigewalt schützen. In Kassel wollen die Figuren nicht umhergetragen werden. Standhaft werben sie 100 Tage lang für „Befreiungskunst“.

Über dem Eingang hängt das Banner „Brennender Hunger wird zum Hammer“. Das Thema trifft nicht minder all die Satten, die bisher nicht in der Lage sind, eine auch für acht Milliarden Menschen noch ausreichend produzierte Menge an Nahrungsmitteln so zu verteilen, dass  Hunger auf der Stelle von der Liste unserer selbst verursachten globalen Katastrophen verschwindet. Sattwerden ist ein Menschenrecht.

Links vom Eingang richtet das Banner „Menschliche Erde“ sich gegen Gewalt und Diskriminierung der Bewohner Papuas.

Rechts zeigt die Arbeit „Menschenrechte“ eine der ständigen Inspirationen für das Kollektiv.

Im Innern des ehemaligen Hallenbades zerwimmeln, sortieren, verknüpfen an Wänden, im Becken, auf der Galerie und in Nebenräumen über 100 Werke der Gruppe und unterbinden eventuell aufkommende Gleichgültigkeit. Die Vernetzung der Motive und Szenen auf den Bildern verhindert rasches Durchgehen. Fluchtwege und Notausgänge für Überforderte sind vorhanden. Anders – dessen sind sich die Künstler:innen von Taring Padi bewusst – als in der Wirklichkeit.

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