„Il était une forêt“ heißt ein französischer Dokumentarfilm nach einer Idee des Botanikers und Regenwaldforschers Francis Hallé. Verfilmt von Luc Jacquet („Die Reise der Pinguine“) läuft er als „Das Geheimnis der Bäume“ zurzeit in den Programmkinos. Der originale Titel, übersetzt: „Es war einmal ein Wald“, trifft das Anliegen des Films besser. Bäume sind noch kein Wald, sind noch nicht dieses Jahrmillionen lang funktionierende System, das sich die Zeit gesichert hat, so wie Mensch und Tiere den Raum.
Auch bleibt der deutsche Titel an der Täuschung haften, der wir erliegen, wenn wir in Bäumen gern die Vorbilder für unsere Strukturen sehen. Tatsächlich ist kein Baum hierarchisch organisiert, von der Spitze zur Wurzel oder umgekehrt. Er lebt aus der Durchdringung all seiner Bestandteile und erhebt sich als ein Meisterwerk der strategischen Defensive zum Wald.
Bisher hatte ich keine brauchbare Erklärung dafür, warum sich Natur differenziert. Mit der Wechselwirkung zwischen Passionsblume und Heliconiusschmetterling, die Francis Hallé im Film zur Sprache bringt, ergibt sie sich en passant:
„Im Wald hat die Passionsblume nur einen einzigen Feind: die Raupen der Heliconiusschmetterlinge, die sich seit Generationen von ihren Blättern ernähren. Eines Tages wurde die Passionsblume durch zufällige Mutation hochgiftig. Befreit von ihrem Fressfeind gedieh diese neue Art der Liane nun prächtig. Nach einiger Zeit tauchte eine neue Raupenart auf, die gegen das Gift der Liane immun war. Der Schmetterling aber wurde selbst giftig für seine Feinde.
Ungestraft machte sich dieser neue Heliconius daran, die Passionsblumen zu vernichten. So entstanden wieder neue Lianenarten. Sie änderten die Form ihrer Blätter, um die Schmetterlinge zu täuschen. Der Trick funktionierte perfekt, bis der Schmetterling eine Blume mit derart guten Pollen entdeckte, die es ihm ermöglichten, länger zu leben. Lange genug, um die getarnten Blätter der Passionsblume zu erkennen. Es tauchte eine neue Passionsblume auf. Sie begann, falsche Eier zu produzieren, um dem Schmetterling vorzugaukeln, sein Platz sei schon vergeben.
Hier höre ich auf. Durch dieses Spiel von Angriff und Verteidigung entstanden 45 Heliconius-Arten und 150 Arten der Passionsblume. Und das in nur einigen Jahrzehnten. Millionen von Arten, kleine und große, erblicken auf gleiche Weise das Licht der Welt. Viele einzelne Geschichten, die Teil der großen Geschichte des Waldes sind.“
Die Differenzierung durch Mutation bringt demnach nur einen verschwindend kleinen Teil der Biodiversität hervor. Der überwiegende Teil ergibt sich aus der Wechselwirkung der Arten. Das erscheint mir viel plausibler als die auf den Deus ex Machina angewiesene These der Entwicklung vom Niederen zum Höheren.
Der Wald lebt uns vor, wie wir mit ihm und mit uns umgehen sollten. Er steht nicht bloß da, sondern repräsentiert die ’natürliche Intelligenz‘, die uns auf der kurzen Strecke unserer Entwicklung abhanden gekommen scheint.
Es wäre gar nicht seltsam, wenn sich herausstellt, dass der Zeitspeicher Wald nicht nur Tiere kreiert und in seine Obhut nimmt, sondern auch uns noch entwickelt, wenn wir ihm nicht zuvorkommen und, in Eile, die Symbiose mit ihm kappen.