„documenta fifteen“ 2

SKANDAL

Als Auftakt habe ich mir eine Führung im Hübner-Areal ausgesucht. Das ist ein für die documenta fifteen neu erschlossenes Gelände im Stadtteil Bettenhausen. Dort wirtschaftete bis 2019 der in Kassel ansässige Global Player „Hübner GmbH & Co. KG“.

Das 1946 vom Namensgeber gegründete Handelsunternehmen unterhält seit 2017 Produktionsstätten (zum Beispiel Übergänge und Fenstersysteme für Schienenfahrzeuge und Gelenkbusse, Rampen und Lifte für Flughäfen, Teile für Automobile und Medizintechnik) mit insgesamt etwa 2400 Beschäftigten in Brasilien, China, den USA, Ungarn, Russland, Schweden, Italien, Frankreich, Indien, Großbritannien, Südafrika, Malaysia, der Türkei und Kolumbien.

In einer ehemaligen Werkhalle kitzelt in der Frühe des Abends ein pensionierter Gymnasiallehrer für Kunsterziehung bei fünfzehn Leuten Neugier wach. Richtig vermutet er, dass alle schon von dem Skandal um Kunstwerke, denen antisemitische Propaganda angelastet wird, gehört und gelesen haben. In den Mainstream-Medien bestimmen solche Vorwürfe von Anfang an die Berichterstattung über die Kunstschau.

Tatsächlich geht es um zwei in Nazi-Manier karikierte Juden auf einem halben Quadratmeter des 100 Quadratmeter großen Banners „People‘s Justice“ („Volksjustiz“), das auf dem Friedrichsplatz aufgestellt wurde.

Geschaffen wurde das Wimmelbild schon im Jahr 2002 von der Gruppe Taring Padi und danach auch außerhalb Indonesiens gezeigt. Nirgends erregten bisher ein unter einem Hut mit SS-Runen Zigarre rauchender Mann mit roten Augen und vampirartigen Zähnen und ein Mossad-Soldat mit Schweinsgesicht und einem Halstuch mit Davidstern Aufsehen und noch nirgendwo löste das Bild derart kontroverse Diskussionen aus wie hierzulande.

Genauer betrachtet ist das Schweinsgesicht eine geschickt verzeichnete Atemmaske, die eine Schweineschnauze assoziiert. Das schaffte bei mir allerdings schon vor 50 Jahren der Anblick dieses im Ersten Weltkrieg zum Schutz vor chemischen Kampfstoffen erfundenen Utensils, mit dem mich Unteroffiziere in der Grundausbildung meiner Wehrdienstzeit lustvoll über die Sturmbahn jagten.

Ich kann mir vorstellen, dass hierzulande Juden, die heute tagtäglich latenten Rassismus erleben, eine solche Karikatur verstört, aber welche Perspektive hat Taring Padi? Statt sich damit zu beschäftigen, stellt der Mainstream-Journalismus die gesamte Kunstschau unter den Generalverdacht „massiver Judenfeindlichkeit“ und fordert in der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“, die documenta fifteen „als antisemitische documenta der Schande in die Geschichte eingehen (zu) lassen“.

Taring Padi entschuldigte sich umgehend: Als Kollektiv von Künstler:innen, die Rassismus jeglicher Art verurteilen, sind wir schockiert und traurig über die mediale Berichterstattung, die uns als antisemitisch bezeichnet. Mit Nachdruck möchten wir unseren Respekt für alle Menschen bekräftigen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Race, Religion, Gender oder ihrer Sexualität. Die von uns verwendete Bildsprache ist nicht aus Hass gegen eine bestimmte ethnische oder religiöse Gruppe entstanden, sondern als Kritik an Militarismus und staatlicher Gewalt gedacht.“

Dann geht es noch um Filme aus den 1970er und 1980er Jahren, die das japanisch-palästinensische Kollektiv Subversive Film, das zum Thema Kino forscht und produziert, im Hübner-Areal zeigt. Die Filme sind aus einer palästinensischen revolutionären Bewegung heraus entstanden, wurden vom isrealischen Militär beschlagnahmt, in ein Lagerhaus verbracht und dort ‚vergessen‘, bis sie zusammen mit Plakaten und Büchern über den Kontakt des Kollektivs mit einem japanischen Agit-Prop-Filmer, der ein Mitglied der 1988 aufgelösten Japanischen Rote Armee Faktion war, nach Tokio gelangten. In Kassel laufen diese Filme unkommentiert, was zu Recht kritisiert wird.

„Wenn man es schon zeigt, hätte man es erklären müssen. Hätte man es einordnen müssen. Hätte man sagen müssen, was es im Jahr 2022 noch sagen soll und will. Das ist nicht geschehen“, stellt der nordhessische Journalist Peter-Matthias Gaede fest, um fortzusetzen: „Aber reicht das, eine gesamte documenta so reflexhaft unter Generalverdacht zu stellen? Reicht das für die lärmenden Headlines?“

„Die Menschenwürde, der Schutz gegen Antisemitismus, wie auch gegen Rassismus und jede Form der Menschenfeindlichkeit sind die Grundlagen unseren Zusammenlebens, und hier findet auch die Kunstfreiheit ihre Grenzen“, sagt die Grüne Frau Kulturstaatsministerin Roth beflissen. Eine Phrase, die einen Diskurs abwürgt, anstatt ihn zu eröffnen. Schade.

In Indonesien, der Heimat von Taring Padi, putschte sich 1965 der Armeeoffizier Suharto an die Macht und befahl den (nach dem Genozid Hitlers an den Juden) zweitgrößten Genozid des 20. Jahrhunderts. Während seiner Herrschaft galt er als der korrupteste Diktator der Welt. Ungeachtet dessen wurde er im „Kalten Krieg“ von den Westmächten unterstützt. Es ging ja ums kommunistische Gespenst! Bis heute ist nicht aufgearbeitet, dass die BRD 1965 und 1966 den Genozid Suhartos guthieß und wahrscheinlich finanziell unterstützte. Eine Barzahlung in Höhe von 1,2 Millionen D-Mark ist „hauptsächlich für Sonderaktionen gegen KP-Funktionäre und zur Durchführung von gesteuerten Demonstrationen“ verwendet worden, soll in immer noch geheimgehaltenen Akten des BND stehen.

Eine halbe bis drei Millionen sogenannte Kommunisten und ihre Familien wurden getötet. Der Verdacht einer deutschen Mitverantwortung für die indonesischen Massaker steht im Raum. Ein auf den 03.11.1965 datierter BND-interner Bericht mit dem Betreff „Föhrenwald“ soll „ein regelrechtes Abschlachten von Kommunisten“ schildern. 1998, im selben Jahr, als Suhartos Diktatur endete, gründete sich Taring Padi und nutzt seither Agitprop-Ästhetik, Karikaturen, politische Zeichnungen und Banner, um in der Heimat mit Mitteln der Kunst eine Epoche demokratisch orientierter Reformen zu unterstützen.

Warum nutzt der deutsche Bundespräsident seine Rede zur documenta fifteen nicht, um endlich die Veröffentlichung der BND-Akten zu fordern? Stattdessen spricht er von einer ominösen Kunstfreiheit und Künstler:innen diese auf politischem Gelände ab. Von Ersatzreinigung spricht Gaede: „Wir waren die Täter, wir haben den Holocaust zu verantworten. Allein 2021 sind etwa 2700 antisemitische Vorfälle in Deutschland zu vermelden gewesen. Das sollte schwer auf uns lasten. Aber statt sich damit auseinanderzusetzen, hat man an der documenta so eine Art Ersatzreinigung vorgenommen. Das war einfacher und kostet nicht so viel.“ Chance vertan.

Nach dem intensiven Rundgang bin ich randvoll mit Bildern und Gedanken. Ich fühle mich wie ein Entdecker von Neuland, der sich dessen vor dem Verarbeiten erst einmal in Ruhe vergewissern will. Dazwischen kommt unser Guide mit seinem Angebot von vor zwei Stunden, doch niemand hat nach der Vielfalt und Eindringlichkeit des eben Erlebten noch Lust auf die Auseinandersetzung mit einem scheinheiligen Empörungsjournalismus.

3 Gedanken zu „„documenta fifteen“ 2

  1. Danke für die sehr rationalen und doch emphatischen Zeilen. Ich kenne persönlich das Schicksal einiger Juden aus Dessau, die nach langer Irrfahrt in Tel-Aviv ihr neues zuhause fanden. Antisemitismus, Rassismus sind abscheulich. Aber der reflexartige Verleumdungscircus, der hier von der sogenannaten „Freien Presse“ zelebriert wird soll nur die Verbrechen und die Schuld unserer ehemaligen Regierenden verdecken. Es ist wirklich eine vertane Chance sich mit dem Thema endlich einmal wirklich auseinanderzusetzen. Aber das ist halt unsere gegenwärtige Gesellschaft mit all ihrer Verlogenheit und Heuchelei.

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