„Lehrlinge fehlen händeringend“, erzählt ein Journalist, eine Fachkraft, im Deutschlandfunk. Allerdings ist „Fachkräftemangel“ ein falscher Begriff, wenn in einem bestimmten Moment zu wenig Leute eine bestimmte Arbeit verrichten. Er kommt aus einer zur Untauglichkeit vereinfachten Sichtweise. In einem Zusammenhang, der der Wirklichkeit näher kommt, fehlen Fachkräfte hierzulande ebenso wenig, wie in der Ägäis Muscheln, wodurch, vom gleichen Radiosender mitgeteilt, viele griechische Familien im nächsten Jahr ihre Existenzgrundlage verlieren werden.
Tatsächlich sind beide Mängel dadurch entstanden, dass an bestimmten Stellen die Wirklichkeit zu lange ignoriert und an ihr vorbei regiert und gelebt wurde. Anstatt Entscheidungen und Handlungen an der Wirklichkeit auszurichten, wurden sie an Wunschdenken geknüpft, zum Beispiel das Hergebrachte unter veränderten Bedingungen schadlos fortsetzen zu können.
Das bringt mich zu der These, dass es in Wirklichkeit keinen Mangel an Muscheln und Fachkräften gibt, sondern einen Mangel an einer ihr zuträglichen Lebensweise. Dass auf einmal etwas fehlt, ist ein Fakt, doch zugleich das Resultat eines Werdegangs über einen Zeitraum hin. Nur wenn ich ihn ignoriere, kann ich überrascht sein. Tatsächlich aber ist überall dort, wo wir leben und unsere Umwelt verändern, genau das vorhanden, wofür wir, mittel- und unmittelbar, sorgen – oder eben nicht.
Wenn ich Niemandem Vorsatz unterstelle und Universitäten, Parlamente und andere Institutionen kraft ihres geballten Menschenverstandes für maßgeblich halte, kann ich die Ursache für defizitäre Menschen- und Tierbestände nur im Zusammenhang finden, im System.
Mathematisch ausgedrückt leben wir in einer dynamischen Gleichung. Auf Deutschland bezogen sind das etwa 85 Millionen Menschen, die fortwährend zur Ungleichung tendieren, was schließlich und schlüssig zur Auflösung des Systems führen würde. Wollen wir das nicht und wollen wir das nicht dem Naturgeschehen überlassen, müssen wir uns selbst um unser Gleichgewicht kümmern. Für ein demokratisches Verständnis folgt daraus, dass das Volk, der Souverän, sich in der Vielheit seiner Individuen dementsprechend arrangieren, benehmen, einrichten muss.
Mein Eindruck ist, dass wir dazu nicht in der Lage sind. Im Unvermögen, die Wirklichkeit wahrzunehmen? Eigenes Wohlbefinden zugunsten des Gemeinwohls in Frage zu stellen? Einmal erreichte eigene Sicherheit und Bequemlichkeit wiederholt aufs Spiel zu setzen? Oder weil ich mich im Zweifels- oder Ernstfall gern täuschen lasse? Mich selbst gern täusche? Dann kann Enttäuschung eine neue Aussicht öffnen: zum Beispiel auf Fachkräfte in Deutschland; zum Beispiel auf Muscheln in der Ägäis.