Der Schweizer Soziologe und Schriftsteller Jean Ziegler (1934) war von 2000 bis 2008 Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung. In dieser Mission bereiste er die Welt und wurde zum heftigen Kritiker der „kannibalistischen Weltordnung“. Für ihn folgt sie aus dem Neoliberalismus, dessen Ursprung wiederum die vor 500 Jahren beginnende (nicht enden wollende) Kolonialzeit sei. Damit befindet er sich in prominenter Gesellschaft.
Ohne Kolonialismus, analysierte Karl Marx in seinem Hauptwerk „Das Kapital“, wäre das Gefälle zwischen Arm und Reich längst nicht so groß. „Überhaupt bedurfte die verhüllte Sklaverei der Lohnarbeiter zum Piedestal (Sockel; P.M.) die Sklaverei sans phrase (direkt; P.M.) in der neuen Welt. Welthandel und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals. Der außerhalb Europas direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital.“
Ziegler schreibt: „Die westliche Weltordnung beruht auf struktureller Gewalt. Der Westen geriert sich als Träger universeller Werte, einer Moral, einer Kultur, von Normen, kraft deren alle Völker der Welt aufgerufen sind, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Doch dieser jahrhundertealte Anspruch des Westens wird heute von der überwältigenden Mehrheit der südlichen Völker in Frage gestellt. Sie sehen darin einen unerträglichen Beweis für Anmaßung, eine Vergewaltigung ihrer Identität, eine Verleugnung ihrer Besonderheit und ihrer Erinnerung.“
In seinem Buch „Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren“ (2009) zitiert er den Algerier Abdelaziz Bouteflika, der 1974/75 Präsident der UN-Generalversammlung war. „Es muss die Zeit kommen, da die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit wiedergutgemacht und damit die Funktions- und Gleichgewichtsstörungen eines Systems beseitigt werden, das unbarmherzig auch weiterhin den Mächtigsten zu noch mehr Reichtum verhilft und die Schwächsten in alle Ewigkeit zum Elend verurteilt.“
Zieglers Credo ist ein Zitat von Bertolt Brecht aus seinem epischen Theaterstück „Leben des Galilei“, mit dem er sein Buch „Ändere die Welt!“ eröffnet: „Ja, ich glaube an die sanfte Gewalt der Vernunft über die Menschen. Sie können ihr auf die Dauer nicht widerstehen. Kein Mensch kann lange zusehen, wie ich einen Stein fallen lasse und dazu sage: er fällt nicht. Dazu ist kein Mensch imstande. Die Verführung, die von einem Beweis ausgeht, ist zu groß. Ihr erliegen die meisten, auf die Dauer alle.“