„In den Gängen“ ist ein Film von Thomas Stuber nach einer Geschichte von Clemens Meyer. Es ist ein beeindruckender Film in der aktuellen Umgebung der vom WDR gesendeten dreiteiligen Dokumentation „Ungleichland“ sowie zahlreicher Radio- und Fernsehbeiträge, die, meist aus der Perspektive des Establishments, akute und heraufziehende dramatische Konflikte in der geschichteten Gesellschaft thematisieren. Sie zeigen sich am Auseinanderklaffen von Arm und Reich, am Abbau von Sozialsystemen, am spürbaren Ressourcenschwund, an planetarer Vermüllung und beginnenden Völkerwanderungen, begünstigt von Klimaveränderungen, verursacht von einer global dominanten neoliberalen Ökonomie und der Individualisierung der Menschen auf Kosten ihres Gemeinschaftssinns. So wird uns der einzig mögliche Lebensraum immer fremder.
Indessen entfaltet dieses Kammerspiel, durch minimale Zeitverschiebungen und geschickten Lichtverzicht unserer Wahrnehmung eine Welt menschlichen Existierens, für deren bitterlichen Ernst allein wir – kein Gott und Schicksal! – verantwortlich sind. Sie erinnert an die Welt der Elois aus H. G. Wells‘ dystopischer „Zeitmaschine“, mühelos in unserer Realität gefunden und mit Wesen besiedelt, die nichts weniger brauchen als Mitleid und nichts weniger erwarten als Hilfe von denen „da oben“, die über ihr Leben bestimmen – tatsächlich oder nur scheinbar? Das ist hier die Frage. Autor und Regisseur machen aus der Wells‘schen Unterwelt ein Nebenan und antworten nicht so oder so, denn die (Kamera)Perspektive spielt dabei eine wichtige Rolle.
Stubers Kamera filmt konsequent, was die ausgeleuchtete Oberwelt gern außer Acht und gern im Dunkel lässt. Sichtbar wird Unerwartetes: die Komplexität der Welt der Gänge und ihre Vollständigkeit, die die andere Welt trägt und erträgt und sehr wahrscheinlich gar nicht nötig hat. Sichtbar wird eine Gemeinschaft, die über so viel Wärme verfügt, dass ich nicht weiß, ob sie vom Erdinneren oder der Sonne oder den Herzen angefacht ist. Bis ich spüre, dass alle drei Wärmequellen zusammenhängen – nur noch in dieser Welt? Ob das Triple die „da oben“ noch retten kann?
Kein Zweifel: Sowohl die Musik – eine berührende Mischung beginnend mit Johann Strauß‘ „An der schönen blauen Donau“ (ein Walzer, der den Film an Stanley Kubricks „2001“ andockt), als auch strategisches Denken – wofür das Schachspiel steht, sind in dieser Welt zu Hause. Und das Zuhause selbst, denn die privaten Rudimente außerhalb taugen allenfalls zum Sterben. Liebe ist „da oben“ sowieso abhanden. Schon deswegen ist der Film wenig hoffnungsvoll.
Aber wertvoll ist er und erwärmend und könnte ein guter Film sein, gäbe es nicht Längen im zweiten Teil, die entstehen, weil der Regisseur nach und nach das Vertrauen in die Intelligenz des Zuschauers (und in sich selbst?) verliert und weil eine konstruierte Pointe (einem Gabelstabler wird die völlig unnötige Fähigkeit zugemutet, bis dahin überaus glaubhaften Figuren Meeresrauschen vortäuschen zu können) trotz hartnäckiger Vorbereitung nicht funktioniert, sondern vom Eigentlichen nur ablenkt. Ein Clemens Meyer ist eben kein Günter de Bruyn und ein Thomas Stuber (noch) kein Harun Farocki. Was hätte er bemerkt?