Eine andere Komposition, die sich absichtsvoll musikalischer Begrifflichkeit bedient, ist die Performance „Social Dissonance“ des Spaniers Mattin in der documenta-Halle. Könnte das Ausüben von „Noise und Improvisation“ dazu beitragen, das Ausmaß des Zur-Ware-Werdens und der Vermarktung (menschlicher Arbeitskraft) besser zu verstehen und gar aufzuhalten? Können wir Noise (Lärm, Geräusch, Krach, Rauschen, Störung, Klatsch, Heroin, Rumor) nutzen, „um althergebrachte Beziehungen zwischen Publikum und Performer:in zu überwinden?“ Das soll das Publikum in seinem 163 Tage dauernden ‚Konzert‘ an sich selbst erproben.
„Können wir Prozesse der Selbstreferenzialität so weit forcieren, dass positives Feedback entsteht?“ In der Politikwissenschaft nennt man ein System selbstreferentiell, das die Bedingungen seiner Fortexistenz ständig aus sich selbst reproduziert. Sobald Machteliten nur noch ihren eigenen Interessen folgen, ist eine offene Gesellschaft nicht mehr möglich.
Vielleicht auf andere Weise: „Hört gut zu. // Das Publikum ist euer Instrument. Spielt es, um zu verstehen, wie wir grundsätzlich instrumentalisiert werden. // Versorgt das Publikum mit Konzepten, Fragen und Bewegungen und erforscht dadurch die Dissonanz, die zwischen dem individuellen, vom Kapitalismus hervorgebrachten Narzissmus und unserer sozialen Fähigkeit existiert. Die Dissonanz zwischen der Art und Weise, wie wir uns selbst als freie Individuen mit Handlungsmacht wahrnehmen und der, wie wir durch kapitalistische Beziehungen, Technologie und Ideologie gesellschaftlich bestimmt werden. // Denkt über die Beziehung zwischen dem Ich und Wir nach, wenn ihr die gesellschaftliche Dissonanz bestimmt. // Helft dem kollektiven Subjekt dabei, zu entstehen.“
Draußen ist die Trübe vom Vormittag einer lockeren Bewölkung gewichen. Sonne zeigt sich und wärmt und lockt in die Karlsaue. Dort hat sich auf der Wiese, unmittelbar vor der Orangerie, „The Mill of Blood“ des Mexikaners Antonio Vega Macoleta martialisch platziert. An falschester Stelle. Genau an der richtigen.
„Es ist die maßstabsgetreue Nachbildung einer bolivianischen Silbermühle aus der Frühzeit der spanischen Kolonialherrschaft. Sie befand sich in einer solchen Höhe, dass sie auf die Arbeitskraft von indigenen Sklav_innen aus den Anden angewiesen war. Der Reichtum wurde nicht nur aus dem Boden extrahiert, sondern auch aus den Körpern der indigenen Bevölkerung. Auf der Rückseite der Münzen wurde nicht das übliche Konterfei des Staatsoberhaupts geprägt, sondern das gefiederte Horn des bolivianischen Gottes der Bergleute: El Tío, dem heute noch bolivianische Bergleute, deren Lebenserwartung vierzig Jahre beträgt, Lebensmittel und andere Dinge opfern, auf dass sie von seinem Geist beschützt werden.“
Auch Leonardo da Vinci konstruierte aus Zahnrädern und Getrieben Maschinen, die vor allem Neid und Gier antrieben, anstatt Interessen und Widersprüche auszugleichen. Gibt es eine richtige Kunst in einer falschen Gesellschaft?
Der Österreicher Lois Weinberger will „die Verbindungen von Natur und Gesellschaft in präziser Achtlosigkeit“ verfolgen. Seine hier entstandene Installation „Ruderal Society: Excavating a Garden“ sieht seinen Garten „im Unterhalb“, in archäologischen Zusammenhängen, die „gesellschaftliche Verbindungen ermöglichen. Die urbane Ebene wird abgehoben und die darunterliegende Erde freigelegt – Narben und Verletzungen eines Aufbruchs. Der Spontanvegetation in ihrer Vielfalt wird ein Raum ermöglicht, ein Geschehen inszeniert, welches das Ende wie auch ein Beginnen gleichermaßen ausschließt und den Akteur wie auch den Betrachter zum Teilnehmer bestimmt.“ An einer Trümmergesellschaft.
Tief in den Nachmittag bin ich eingesunken. Es bedarf nicht erst des Aufstiegs aus der Fulda-Aue zur Schönen Aussicht, um meine Beine zu spüren. Durch das Palais Bellevue müssen sie mich noch tragen. Und zehn Minuten am Aufgang zur Dachetage ausharren! Wie konnte ich das vergessen, als ich von keiner Wartezeit schrieb? Vielleicht, weil ich der Kopf der Schlange bin und mangels Hauspersonal fortwährend damit beschäftigt, die an mir Vorbeiwollenden aufzuhalten und in aller Höflichkeit an mein immer längeres Ende zu bitten.
Die vielfache Neugier gilt dem 2016 entstandenen Film „The Dust Channel“ des Israeli Roee Rosen. Der Maler, Autor und Filmemacher, „dessen Arbeiten sich hauptsächlich mit der Darstellung von Begehren und struktureller Gewalt auseinandersetzen“, nimmt sich einer russischen Operette an, in der eine bürgerliche israelische Familie aus „Angst vor Schmutz, Staub und jedweder fremden Präsenz in ihrem Zuhause […] eine pervertierte Liebe zu Reinigungsgeräten“ entwickelt. Roee Rosen „assoziiert Staub im übertragenen Sinn mit Sand und verweist indirekt auf aktuelle Formen der Fremdenfeindlichkeit: Das Internierungslager, in dem staatlich nicht anerkannte politische Flüchtlinge auf lange Zeit festgehalten werden, liegt in der israelischen Wüste und trägt den Namen ‚Holot‘, was auf Hebräisch ‚Sand‘ bedeutet.“
Auch die Neue Galerie muss noch sein, in der ich vor allem Josef Beuys besuchen will. Das wird fast zur vergeblichen Suche, vorüber zum Beispiel an „Photo Notes“ des Niederländers Hans Eijkelboom, an 270 Injekt-Prints, die die Vielfalt in eine Wiederholung und Gleichförmigkeit bringen, um mir das Wesen des globalen Kapitalismus zu zeigen.
Vorbei an Schulbänken, Fotografien und mit Farbstift, Erde und Lippenstift bezeichneten Papierbögen, an bedruckten und bemalten Notizbüchern, Digitalvideos, Musikaufnahmen, an Handpuppen, Marionetten, Spielzeug und Zerbrochenem, Dinge, die Pèlagie Gbaguidis aus Benin zu „The Missing Link“ verbindet, um eine Art von Bildung zu thematisieren, die nicht befreit. „Ein Sklave, der seinen Besitzer, seine Besitzerin oder deren Mann oder Kinder schlägt, wird mit dem Tod bestraft“, ist mit Kinderschrift auf einen Zettel geschrieben, abgelegt zwischen Bach- und Händelmusik, darunter Scherben aus Glas und Ton. Dieser Satz entstammt einem „Code Noir“ genannten Dekret, das der Sonnenkönig Ludwig der XIV. 1685 für den finsteren Alltag der Sklaven in seinen Kolonien erließ, wo es bis 1848 Gültigkeit behielt.
„In ihrer Kunst“, wie es im „Daybook“ heißt, „fragt Pèlagie Gbaguidis in Gestalt eines Rätsels nach unserer Herkunft und Zukunft. Ein einziger, entscheidender Aspekt erscheint ihr dabei unerlässlich: dass das, was uns allen gemein ist, was wir miteinander teilen und lieben, gänzlich vergebens wäre, würde es nicht versuchen, uns zu besseren Menschen zu machen.“
Die Abteilung Joseph Beuys, stellt sich heraus, ist bis auf einen Blick auf sein „Rudel“ heute unzugänglich. Folgt man einem seiner ungebetenen Interpreten, steht es „für die Invasion der Amerikaner in Vietnam, für Polizisten im Einsatz gegen demonstrierende Studenten, für den Einmarsch des Warschauer Paktes in die CSSR, für das Vorgehen der italienischen Polizei gegen demonstrierende streikende Arbeiter im Herbst 1969 in Mailand usw.“.
„Besser die Gesamtheit dessen begreifen, was getan wurde und was zu tun bleibt, als der alten Welt des Spektakels und der Erinnerungen weitere Ruinen hinzuzufügen“, zitiert das „Daybook“ in seiner Einleitung den französischen Filmemacher und Revolutionär Guy Debord. Als Standbild erscheint es in seinem Film „Über den Durchgang einiger Personen durch eine relativ kurze Zeiteinheit“ aus dem Jahr 1959.
So dass zu guter Letzt kein Kreis sich schließen kann.